Gott hatte wohl gute Gründe, sein Volk durch Mose zurechtzuweisen: Der Umgang mit Fremden ließ offensichtlich zu wünschen übrig. Wer Fremde unterdrückt, der handelt unrecht, sagt Gott. Mehr noch: Im darauffolgenden Vers stellt er die Fremden sogar den Israeliten gleich. Und auch das reicht nicht: „Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst.“ – Meine Güte, was für ein Maßstab! LIEBE, das tiefste und höchste der Gefühle gebietet Gott schon hier im dritten Buch Mose seinem Volk. Da ist die Feindesliebe, die Jesus verlangt, nicht mehr weit. Oder?
Weit gefehlt! Im biblischen Hebräisch ist fremd nicht gleich fremd, sondern es unterscheidet fein, hat diverse Begriffe für den Fremden. Der, der hier zur Sprache kommt, ist ein „ger“ und damit ausdrücklich einer, der voll integriert in der israelitischen Gesellschaft lebt und nicht selten sogar zum Judentum konvertiert war. „Du wirst ihn lieben, er ist wie du“, so Lev 19,34 in anderer Übersetzung. Und auch die Liebe ist in diesem Kontext nicht grenzenlos, sondern dosiertes Wohlwollen auf Augenhöhe gegenüber dem total angepassten Nachbarn nichtisraelitischer Abstammung und gedacht als praktische Methode, Konflikte zu befrieden.
Selbst diese softe Form der Fremdenliebe scheint, wie gesagt, den Israeliten nicht locker zu gelingen, denn für das, was durchweg klappt, braucht es kein Gesetz. Weil Gott und Mose ihr Volk kennen, bauen sie ihm eine Brücke, appellieren im selben Vers an kollektive Erfahrungen und verbindende Gefühle: Geht in euch, spürt das Grauen des Erlebten und die Schmerzen auf, und fühlt euch in den Fremden ein, denn „ihr seid doch selbst Fremde in Ägypten gewesen“.
Ob die Israeliten angesichts ihres eigenen Migrationshintergrunds es leichter hatten, sehr gut integrierten Nicht-Juden wohlwollend und wertschätzend zu begegnen? Und wir? Können wir Christen, umschwirrt von Kampfbegriffen wie „Remigration“ und „biodeutsch“, dieses jüdische Mindestmaß an Fremdenliebe aufbringen?
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